BVerfG: Unterlassungsanspruch bei mehrdeutigen Äußerungen, 1 BvR 1696/98

Verletzt eine mehrdeutige Meinungsäußerung das Persönlichkeitsrecht eines anderen, scheidet ein Anspruch auf deren zukünftige Unterlassung - anders als eine Verurteilung wegen einer in der Vergangenheit erfolgten Äußerung, etwa zu einer Strafe, zur Leistung von Schadensersatz oder zum Widerruf - nicht allein deshalb aus, weil sie auch eine Deutungsvariante zulässt, die zu keiner Persönlichkeitsbeeinträchtigung führt.

Sachverhalt

1 Die Verfassungsbeschwerde betrifft Unterlassungsansprüche wegen der Verbreitung herabsetzender Tatsachenbehauptungen.

2 Der Beschwerdeführer war in Zeiten der Deutschen Demokratischen Republik Konsistorialpräsident der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg und danach Ministerpräsident des Bundeslandes Brandenburg. In seiner Eigenschaft als Vertreter der Kirche unterhielt er von 1969 bis 1989 Kontakte zu hauptamtlichen Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit, welches ihn in einem IM-Vorgang unter der Bezeichnung "IM-Sekretär" als inoffiziellen Mitarbeiter registriert hatte.

3 Der Beklagte des Ausgangsverfahrens (künftig: Beklagter) ist Rechtsanwalt und Notar und war seinerzeit stellvertretender Fraktionsvorsitzender der CDU im Abgeordnetenhaus von Berlin. Er hatte in einer Sendung des Zweiten Deutschen Fernsehens am 2. April 1996 zu dem Meinungsstand im Vorfeld der Volksabstimmung über die Vereinigung der Bundesländer Berlin und Brandenburg über den Beschwerdeführer geäußert:

4 Die Tatsache, dass Herr S..., wie wir alle wissen, IM-Sekretär, über 20 Jahre im Dienste des Staatssicherheitsdienstes tätig, dass der die Chance erhält, 1999 hier in Berlin, auch über Berlin Ministerpräsident zu werden, d.h. dass ich sein Landeskind werde, zusammen mit anderen, das verursacht mir doch erhebliche Kopfschmerzen.

5 Der Beschwerdeführer begehrt Unterlassung der Äußerung und macht geltend, dass die Tatsachenbehauptung, er sei über 20 Jahre im Dienste des Staatssicherheitsdienstes tätig gewesen, eine Verleumdung seiner Person darstelle, da er niemals als Inoffizieller Mitarbeiter im Dienste des Ministeriums für Staatssicherheit tätig gewesen sei. Diese Tatsachenbehauptung - unterstrichen durch die Formulierungen "Tatsache" und "wie wir alle wissen" - sei geeignet, ihn in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen und verächtlich zu machen.

6 Das Landgericht hat eine auf Unterlassung gerichtete Klage des Beschwerdeführers abgewiesen und dies im Wesentlichen damit begründet, dass die Äußerung vom Grundrecht auf Meinungsfreiheit gedeckt sei.

7 Das Oberlandesgericht hat die Entscheidung des Landgerichts aufgehoben und den Beklagten verurteilt, es bei Vermeidung eines Ordnungsgelds zu unterlassen, die Behauptung zu verbreiten oder zu wiederholen, der Beschwerdeführer sei "IM-Sekretär, über 20 Jahre im Dienste des Staatsicherheitsdienstes tätig" gewesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass der Beklagte eine den Beschwerdeführer herabsetzende und verächtlich machende Tatsache behauptet und verbreitet habe. Die angegriffene Äußerung bedeute nach allgemeinem Sprachgebrauch, dass jemand auf Grund einer ausdrücklich oder konkludent abgegebenen Verpflichtungserklärung im Auftrag des Staatssicherheitsdienstes Informationen über Dritte gesammelt oder beschafft und an den "Dienstherrn" zu dessen Nutzen weitergegeben habe.

8 Nach § 823 Abs. 2 BGB, § 186 StGB habe der Beklagte die Wahrheit seiner Behauptung beweisen müssen. Das sei ihm nicht gelungen. Zum Beweise für Dienste bei der Staatssicherheit genüge nicht die Tatsache, dass der Beschwerdeführer bei dem Ministerium für Staatssicherheit als "IM-Sekretär" registriert gewesen sei. Eine schriftliche Verpflichtungserklärung sei nicht bekannt. Die über ihn bei dem Ministerium für Staatssicherheit geführte Akte sei vernichtet. Das Gericht vermöge auch angesichts der weiteren durch den Beklagten angeführten Indizien nicht mit hinreichender Gewissheit zu erkennen, ob der Beschwerdeführer in dem Bemühen, humanitäre Hilfe zu leisten und Handlungsspielräume der Kirche zu erweitern, in seinen Kontakten zum Ministerium für Staatssicherheit "zu weit gegangen", gleichwohl aber ein Mann der Kirche geblieben sei oder ob er die Seiten gewechselt und für das Ministerium für Staatssicherheit zielgerichtet die Kirche ausspioniert habe, um Handlungsspielräume der Staatsführung der Deutschen Demokratischen Republik in die Kirche hinein zu eröffnen oder zu erweitern. Die Äußerung des Beklagten sei auch nicht durch das Grundrecht der Meinungsfreiheit gedeckt oder nach § 193 StGB gerechtfertigt. Zur Wahrnehmung berechtigter politischer Interessen hätte es genügt, die Berichterstattung zu den Vorwürfen mit den Indizien gegen den Beschwerdeführer zusammenzufassen, sie in Erinnerung zu rufen oder gekennzeichnet als eigene Meinung zu bewerten. Der Beklagte habe dagegen nicht über die bewiesenen Tatsachen hinausgehende Behauptungen verbreiten dürfen, die er zudem auf ihren Wahrheitsgehalt nicht überprüft habe.

9 Der Bundesgerichtshof hat mit dem angegriffenen Urteil (BGHZ 139, 95) auf die Revision des Beklagten hin das Urteil des Oberlandesgerichts aufgehoben und die Berufung des Beschwerdeführers gegen das Urteil des Landgerichts zurückgewiesen. Das Berufungsgericht habe zu Unrecht dem Unterlassungsbegehren des Beschwerdeführers entsprochen.

10 Die angegriffene Äußerung weise einen Tatsachengehalt auf, der mit den Mitteln des Beweises auf seine inhaltliche Richtigkeit überprüft werden könne. Das Berufungsgericht habe den Aussagegehalt allerdings fälschlicherweise nur in einem ganz bestimmten Sinn gedeutet, ohne andere Verständnismöglichkeiten auch nur zu erörtern. Der Hinweis auf eine Tätigkeit "im Dienst" des Staatssicherheitsdienstes schließe nicht zwingend die Behauptung ein, der Beschwerdeführer habe eine solche Tätigkeit auf der Grundlage einer Verpflichtungserklärung für den Staatssicherheitsdienst als seinen Dienstherrn ausgeübt. Vielmehr könne der fragliche Textabschnitt zwanglos auch dahingehend verstanden werden, der vom Ministerium für Staatssicherheit aktenmäßig als "IM-Sekretär" geführte Beschwerdeführer habe diesem - ohne hierzu auf Grund einer Verpflichtungserklärung angehalten gewesen zu sein - Dienste geleistet, indem er im Rahmen seiner - unstreitig intensiven - Kontakte zum Staatssicherheitsdienst diesem entsprechend dessen Erwartungen, aus welchen Motiven auch immer, bewusst und gewollt Informationen über Dritte oder bestimmte Vorgänge geliefert habe; hierbei habe er in Kenntnis dessen, dass diese Informationen dem Staatssicherheitsdienst dienlich, also nützlich gewesen seien, der Sache nach wie ein Beauftragter gehandelt. Jedenfalls lasse sich ein solches Verständnis nicht ausschließen. Seien mehrere sich nicht gegenseitig ausschließende Deutungen des Inhalts einer Äußerung möglich, so sei der rechtlichen Beurteilung diejenige zu Grunde zu legen, die dem auf Unterlassung in Anspruch Genommenen günstiger ist und den Betroffenen weniger beeinträchtigt. Dies sei aber hier die dargelegte zweite Alternative.

11 Auch bei einem derartigen Verständnis der Textpassage handele es sich jedoch um eine Behauptung tatsächlichen Inhalts, deren Wahrheit nicht erwiesen sei. Dies wirke sich indessen nicht zu Lasten des Beklagten aus. Eine in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Angelegenheit aufgestellte, nicht erweislich ehrenrührige Behauptung dürfe so lange nicht untersagt werden, wie der Äußernde sie zur Wahrnehmung berechtigter Interessen habe für erforderlich halten dürfen (unter Hinweis auf BGHZ 132, 13 <23>). Die erforderliche Güterabwägung ergebe hier, dass das Interesse des Beklagten an der Äußerung überwiege. Die an eine Recherchepflicht zu knüpfenden Anforderungen dürften nicht überspannt werden. Dem Beklagten hätten nach diversen Ermittlungen über die Rolle des Beschwerdeführers keine weiteren Möglichkeiten offen gestanden, substantiell Neues über die Rolle zu erkunden, die der Beschwerdeführer in seinen Kontakten mit dem Staatssicherheitsdienst gespielt hat.

12 Für die Zulässigkeit der Äußerung spreche auch, dass sie im politischen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage gefallen sei und deshalb zu Gunsten des Beklagten die Vermutung für die Zulässigkeit der freien Rede spreche. Es komme hinzu, dass der Beschwerdeführer selbst sich engagiert an der politischen Auseinandersetzung beteiligt und sich damit aus eigenem Entschluss ins Rampenlicht einer öffentlichen Diskussion gestellt habe, für die von vornherein die Thematisierung der Rolle nicht fern gelegen habe, die er mit seinen langjährigen Kontakten zum Staatssicherheitsdienst gespielt habe. Schließlich habe der Beklagte seine Äußerung nicht ohne jeden Anhaltspunkt aufgestellt, sondern könne sich darauf stützen, dass es auch gegen den Beschwerdeführer sprechende Indizien gebe.

13 Der Bundesgerichtshof sei an einer abschließenden Entscheidung in der Sache nicht durch einen erstmals im Revisionsverfahren gestellten Beweisantrag des Beschwerdeführers gehindert, wonach der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt während seiner Amtszeit den Beschwerdeführer darum gebeten habe, mit dem Staatssicherheitsdienst der Deutschen Demokratischen Republik Kontakt aufzunehmen. Abgesehen davon, dass damit die Unwahrheit der konkreten Behauptung des Beklagten nicht zu beweisen wäre, sei ein solcher Beweisantrag in der Revisionsinstanz unzulässig. Außerdem habe das Berufungsgericht von seinem Standpunkt aus keine Veranlassung gehabt, auf ergänzenden Vortrag oder Beweisanträge des Beschwerdeführers hinzuwirken.

Entscheidungsgründe

[...]

BVerfG, Beschluss vom 25.10. 2005, 1 BvR 1696/98

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