BGH: Wissenschaftliche Erklärung eines vorher bekannten Stoffes begründet kein Patent, X ZR 68/08 - Memantin

Die Entdeckung, dass ein bestimmter Wirkstoff einem bei einer bestimmten Krankheit hier: Morbus Alzheimer auftretenden pathologischen Zustand hier: dem exzessiven Einstrom von Calciumionen durch NMethyl-DAspartat-Rezeptorkanäle entgegen wirkt, kann keine neue Lehre zum technischen Handeln begründen, wenn es im Stand der Technik bekannt war, an dieser Krankheit leidende Patienten zur Linderung der Krankheitssymptome mit dem Wirkstoff zu behandeln und weder eine neue Art und Weise der Wirkstoffgabe gelehrt noch eine Patientengruppe als erfolgreich behandelbar aufgezeigt wird, die mit dem Wirkstoff bislang nicht behandelt worden ist.

Tatbestand

1 Die Beklagte ist eingetragene Inhaberin des aufgrund einer Anmeldung vom 14. April 1989 erteilten, im Verlaufe des Berufungsverfahrens durch Zeitablauf erloschenen europäischen Patents 392 059 (Grundpatents), das die Verwendung von Adamantanderivaten zur Prävention und Behandlung der zerebralen Ischämie betrifft. Es umfasst in der erteilten Fassung zwölf Patentansprüche, von denen die Ansprüche 1 und 11 wie folgt lauten:

"1. Verwendung von Adamantanderivaten der allgemeinen Formel worin R1 und R2 gleich oder verschieden sind und Wasserstoff oder geradkettige oder verzweigte Alkylgruppen mit 1 bis 6 C-Atomen bedeuten oder zusammengenommen mit N eine heterocyclische Gruppe mit 5 oder 6 Ringgliedern darstellen, R3 und R4 jeweils gleich oder verschieden sind und ausgewählt sind aus Wasserstoff, einem geradkettigen oder ver-zweigten Alkylrest mit 1 bis 6 C-Atomen, einem Cycloalkylrest mit 5 oder 6 C-Atomen, dem Phenylrest, und worin R5 Wasserstoff oder einen geradkettigen oder verzweigten C1-C6-Alkylrest darstellt, sowie deren pharmazeutisch verträglichen Salze, zur Herstellung eines Medikaments zur Behandlung der Schädigung von Hirnzellen infolge einer zerebralen Ischämie. 11. Verwendung von Adamantan-Derivaten, wie sie in den Ansprüchen 1 bis 9 offenbart werden, zur Herstellung eines Medikaments zur Behandlung von Morbus Alzheimer."

2 Die Beklagte ist ferner Inhaberin des am 15. November 2002 beim Deutschen Patent- und Markenamt angemeldeten und mit Beschluss vom 13. Februar 2006 erteilten ergänzenden Schutzzertifikats 102 99 048 für "Memantin, sowie dessen pharmazeutisch verträgliche Salze, insbesondere Memantinhydrochlorid" (Streitzertifikat). Als erste Genehmigung für das Inverkehrbringen des Erzeugnisses in Deutschland und in der Gemeinschaft sind in dem Erteilungsbeschluss Zulassungen vom 15. Mai 2002 für das Humanarzneimittel "Ebixa-Memantine" mit dem Wirkstoff Memantinhydrochlorid angegeben. Die Laufzeit des Zertifikats begann am 15. April 2009 und endet am 14. April 2014.

3 Noch unter der Geltung des Arzneimittelgesetzes (AMG) 1961 hatte die Beklagte das Arzneimittel "Akatinol-Memantine" mit dem Wirkstoff Memantin-hydrochlorid in den Verkehr gebracht, für das sie gemäß dem Arzneimittelgesetz 1976 eine fiktive Zulassung erhielt. Diese ist aufgrund einer Verzichtserklärung der Beklagten vom 9. Juli 2002 erloschen. Die Beklagte bzw. ihre Rechtsvorgängerin erhielt für "Akatinol-Memantine" ferner Zulassungen in anderen europäischen Staaten, unter anderem mit der Indikation "hirnorganisches Psychosyndrom".

4 Die Klägerinnen zu 1 und 2 sowie die Streithelferin haben geltend gemacht, der Gegenstand des Grundpatents sei nicht patentfähig. Zur Begründung haben sie sich insbesondere auf einen Artikel von Fleischhacker et al., Progress in Neuro-Psycho-Pharmacology and Biological Psychiatry, 1986, Ausgabe 10, Seiten 87 bis 93 (Anlage NIK12), auf die Veröffentlichung zum 1. Memantine Workshop 1987, Expertengespräch, Zuckschwerdt-Verlag München 1987 (Anlage NIK4) und zahlreiche weitere Unterlagen berufen. Die Klägerin zu 2 und ihre Streithelferin haben auch die Nichtigerklärung des Streitzertifikats wegen der mangelnden Patentfähigkeit des Grundpatents begehrt. Sie haben darüber hinaus, ebenso wie die Klägerinnen zu 3 und 4, geltend gemacht, dass das Streitzertifikat zu Unrecht erteilt worden sei, weil die EU-Zulassungen vom 15. Mai 2002 nicht die erste Genehmigung für das Inverkehrbringen der zugelassenen Erzeugnisse als Arzneimittel in Deutschland gemäß Art. 3 d der Verordnung (EWG) 1789/92 seien.

5 Die Beklagte hat das Grundpatent beschränkt verteidigt und im Übrigen Klageabweisung beantragt.

6 Das Patentgericht hat die vier gesonderten Klageverfahren zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden. Mit dem angefochtenen Urteil hat es das Grundpatent und das Streitzertifikat für nichtig erklärt.

7 Hiergegen wendet sich die Berufung der Beklagten. Sie hat angekündigt, das Grundpatent in erster Linie mit folgendem Patentanspruch verteidigen zu wollen:

"Verwendung von 1-Amino-3,5-Dimethyl-Adamantan sowie seiner pharmazeutisch verträglichen Salze zur Herstellung eines Medikaments zur Behandlung der Schädigung von Hirnzellen infolge einer cerebralen Ischämie nach Morbus Alzheimer."

8 Ferner hat sie fünf Hilfsanträge angekündigt, die wie folgt lauten:

  • Hilfsantrag I: "Verwendung von 1-Amino-3,5-Dimethyl-Adamantan sowie seiner pharmazeutisch verträglichen Salze zur Herstellung eines Medikaments zur Behandlung von Morbus Alzheimer."
  • Hilfsantrag II: "Verwendung von 1-Amino-3,5-Dimethyl-Adamantan sowie seiner pharmazeutisch verträglichen Salze zur Herstellung eines Medikaments zur Behandlung der Schädigung von Hirnzellen infolge einer cerebralen Ischämie nach Morbus Alzheimer, wobei das Medikament zur oralen Verabreichung hergerichtet ist."
  • Hilfsantrag III: "Verwendung von 1-Amino-3,5-Dimethyl-Adamantan sowie seiner pharmazeutisch verträglichen Salze zur Herstellung eines Medikaments zur Behandlung der Schädigung von Hirnzellen aufgrund eines exzessiven Einstroms von Calcium durch NMDA-Rezeptorkanäle nach Morbus Alzheimer."
  • Hilfsantrag IV: "Verwendung von 1-Amino-3,5-Dimethyl-Adamantan sowie seiner pharmazeutisch verträglichen Salze zur Herstellung eines Medikaments zur Behandlung der Schädigung von Hirnzellen aufgrund eines exzessiven Einstroms von Calcium durch NMDA-Rezeptorkanäle nach Morbus Alzheimer, wobei das Medikament zur oralen Verabreichung hergerichtet ist.
  • Hilfsantrag V: "Verwendung von 1-Amino-3,5-Dimethyl-Adamantan sowie seiner pharmazeutisch verträglichen Salze zur Herstellung eines Medikaments zur neuroprotektiven Behandlung der Schädigung von Hirnzellen aufgrund eines exzessiven Einstroms von Calcium durch NMDA-Rezeptorkanäle nach Morbus Alzheimer, wobei das Medikament zur oralen Verabreichung hergerichtet ist."

9 Mit Rücksicht auf den Ablauf der Schutzdauer des Grundpatents haben die Klägerinnen zu 1 und 2 und die Beklagte den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt, soweit die Nichtigerklärung des Grundpatents begehrt worden ist. Die Klägerinnen zu 1, 3 und 4 haben ihre Klagen auf den Antrag erweitert, das Streitzertifikat wegen mangelnder Patentfähigkeit des Gegenstands des Grundpatents für nichtig zu erklären.

10 Die Beklagte beantragt, die Klagen abzuweisen, soweit sie sich gegen das Streitzertifikat richten.

11 Im Auftrag des Senats hat Universitätsprofessor Dr. M. G. H. , Direktor der Neurologischen Universitätsklinik der Medizinischen Fakultät M. der Universität H. , ein schriftliches Gutachten erstattet, das er in der mündlichen Verhandlung erläutert und ergänzt hat.

Entscheidungsgründe

BGH, Urteil vom 9. Juni 2011, X ZR 68/08 - Memantin

 

Ähnliche Beiträge

Unverbindliche Anfrage